Gegen die Spracharmut
Fünf Thesen des Schulschreibers 1. Am Anfang steht das Wort. Der Schriftsteller, der als Schulschreiber in Klassen geht, will den Kindern und Jugendlichen die deutsche Sprache näher bringen. Hierbei geht es nicht um Sprachnorm sondern um Sprachbildung. – Spracharbeit beginnt mit dem Wort. Wie sehen Wörter aus? Wie klingen sie? Kann man sie fühlen? – Je mehr Wörter wir haben, desto besser können wir die Wunder und Schrecken der Welt erfassen, genießen und beschreiben. Wenn es gelingt, ein Gefühl für die Eigenheiten der Wörter zu wecken, ist Hoffnung auf erfolgreiche Sprachbildung nicht verloren 2. Aufmerksamkeit für die Kinder. Um erfolgreich arbeiten zu können, muss man die Kinder ernst nehmen. Man muss mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren. Deshalb ist es nicht verkehrt, wenn man ein wenig Kenntnis von der industriellen Kinderkultur hat: Dragonball, Yu-gi-Oh, Tokio Hotel etc ... Eine falsche Kindertümelei ist kontraproduktiv. Auch Anbiederung, indem man die Kinder gleich alle „junge Dichter“ nennt, ist unangebracht. – Wichtig: Die Namen der Kinder lernen. Man steht nicht einer anonymen Masse namens Klasse 9 b gegenüber, sondern einzelnen Individuen, heranwachsenden Jungen und Mädchen, die alle wahrgenommen werden wollen. Das erfordert hohe Konzentration und absolute Präsenz. 3. Befreiung der Phantasie Die Globalisierung der Bilder geht durch alle Köpfe. Kinder sind den medialen Vorgaukelungen schutzloser ausgeliefert als Erwachsene. Es gilt, den Schrott der vorgefertigten Massenphantasien beiseite zu räumen und das individuell Eigene und Besondere eines jeden Kindes zum Vorschein zu bringen. – Eine von vielen Möglichkeiten, kritische Reflexion über gemachte Bilder in Gang zu setzen, besteht darin, gemachte Bilder zu bearbeiten. Wer einmal einen Superhelden erfunden hat, weiß, wie Superhelden funktionieren. – Viele Kinder, mit denen ich arbeitete, wussten nicht, was das Wort Phantasie bedeutet. Wie froh erstaunt waren sie, als sie merkten, dass sie eine haben 4. Die deutsche Sprache im Ruhrgebiet am Anfang des 21. Jahrhunderts Im Jahre 2002 mit den sprachlichen Leistungen der sechsten Klasse einer Gesamtschule konfrontiert, sträubten sich mir die Haare. Von der Warte meiner eigenen Schulerfahrung gesehen, war der Zustand verheerend: Wortmutanten und Lautvertauschungen en masse, Verlust der Aufmerksamkeit im Schreibverlauf eines Wortes, die Schrift verflüchtigt sich in unleserliche Kringel. Drei kurze, an der Tafel vorgegebene Sätze erreichen nur bei einer Schülerin von zweiundzwanzig vollständig und wortgetreu die Heftseite. Inzwischen – nach vielen Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters – sehe ich die Lage nicht weniger besorgniserregend, habe aber ein anderes Verständnis entwickelt und meinen Arbeitsplan auf die Gegebenheiten abgestimmt. In einer Klasse mit achtundzwanzig Kindern, von denen nur noch zwei deutsche Muttersprachler sind, muss die Sprachbildung Grundlagenarbeit leisten. Nun gilt: Jede schriftliche Äußerung ist zunächst positiv zu bewerten. Auch in falsch geschriebenen Wörtern stecken Phantasie und Kreativität. 5. Sprachbildung für alle Klassen! Der Traum des Schulschreibers: Von der Grundschule bis zum Gymnasium jedes Jahr für jede Klasse eine Woche nur Sprachwerkstatt. Dichter und Schriftsteller gehen in Schulen und erarbeiten mit den Schülerinnen und Schülern Gedichte, Geschichten, Theaterstücke, Reportagen und Fortsetzungsromane. Sprache und die Gestaltung von Sprache stehen im Zentrum dieser Woche, es geht um spielerische Erforschung von Ausdrucksmöglichkeiten, Erkundung literarischer Formen und der Entdeckung der kritischen Qualität der Sprache. Geschieht dies nicht, kann man davon ausgehen, dass Deutsch im Jahre 2175 im Ruhrgebiet zu einer Pidginsprache mutiert ist, die als Lingua franca zwischen den Völkerstämmen dient. R. Thenior, Dortmund, 30.10.2006 |
|