Das geheime Leben der Wörter
Freies Schreiben in der Schule Was Sprache ist, kann ich nicht erfahren, indem ich darüber nachdenke, sondern ich muss sie schreibend praktizieren. – (Peter Handke: „Die Geschichte des Bleistifts“) Vorwort Dies Zitat von Peter Handke führt mitten in das Geschehen und die Probleme der Arbeit des Schulschreibers oder Sprachlehrers hinein. Doch bevor wir uns diesem schwierigen Unterfangen in seinen einzelnen Aspekten zuwenden, gilt es, auf eine grundlegende Entscheidung hinzuweisen. Der Verfasser vermeidet in diesem Aufsatz den Begriff „Kreatives Schreiben“, weil dieser in seinem konnotativen Hof ein diffuses Bedeutungsgemisch mit sich führt, das zwischen Hobby, Freizeitvergnügen, Schriftstellerausbildung und psychologischer Entlastungspraxis changiert. Das, worum es hier geht, hat mit alldem wenig zu tun. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks wird er fortan vom „Freien Schreiben“ sprechen. Es geht um Sprachbildung, nicht um Literaturwerkstatt. 1. Was heißt ,Freies Schreiben'? Freies Schreiben ohne Noten, ohne Zwänge heißt: auf spielerische Weise die Freuden, Funktionen und Möglichkeiten der Sprache zu erkunden, um zu einer höheren Sprachkompetenz und einem besseren Verständnis von Rede und Text zu gelangen. Für den Begriff „Freies Schreiben“ entschied sich der Verfasser auch deshalb, weil hinter diesem für ihn die Vision einer selbstbewussten, autonomen und freien Persönlichkeit aufscheint. – Stichwort: Sprachkompetenz als Akt der Emanzipation. – Womit das Ziel der hier behandelten Arbeit im Groben schon umrissen ist. Freies Schreiben bedeutet allerdings nicht, dass jeder einfach drauflos schreibt. Das ließe sich höchsten einmal als Übung durchführen. (Chor der Schulkinder: „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll!“). Um Wirkungen zu erzielen und Einsichten zu ermöglichen, bedarf es einer Reihe von Übungen und Aufgaben, die vom einfachen Wortspiel zum Bau von komplexen Textstrukturen voranschreitet. 2. Die drei großen L Um wirklich zu schreiben, um Literatur als Kunst zu betreiben, bedarf es der drei großen L: Lust (an der Sprache), Leidenschaft (für das Schreiben, für die Literatur mit allen damit verbundenen Schmerzen) und Lebenserfahrung (die der Fundus ist, aus dem sich Geschichten und Gedichte speisen). Das sind Bedingungen, denen sich in jeder Generation nur einige wenige sprachverliebte, literaturbesessene junge Menschen verschreiben, um Dichter oder Schriftsteller zu werden. Beim „Freien Schreiben“ in der Schule jedoch geht es nicht um die Erziehung von Jungliteraten, sondern um eine spielerische Annäherung an die Sprache als Kommunikations- und Ausdrucksmittel. Spielen heißt: etwas tun, ohne für Fehler zahlen zu müssen. Spielen heißt auch: durch eigene Tätigkeit erzeugte Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn, die zu einer allgemeinen Aufhellung des Gemütszustands führt. Spielen und Lernen sind nicht nur im Tierbereich eng miteinander verknüpft. Spielerisch lernt das Kleinkind den Sprachgebrauch – vom Lallen zum Wortklang. (Sprachforscher ließen kürzlich einem dreiwöchigen Säugling eine Geschichte in italienischer Sprache vorlesen, um die Hirnreaktionen zu beobachten; beim Abspielen der Erzählung zeigte sich eine rege Hirntätigkeit, lief das Band rückwärts blieb die linke Gehirnhälfte still. – Schon Säuglinge reagieren auf Sprache!) Das spielerische Treiben im freien Schreiben wird aber, wenn dies auch der Motor ist, nicht allein zur Erheiterung der Kinder in Gang gesetzt. Es geht um Lernziele, die nicht unmittelbar quantifizierbar sind: ein besseres Verständnis für die Sprache als Werkzeug, das den Menschen vom Tier unterscheidet, eine mit der Verbesserung im Sprachgebrauch einhergehende größere Kompetenz und Genussfähigkeit bei der Lektüre. Um dieses Ziel zu erreichen, kommen wieder die drei großen L ins Spiel, denn wer wäre besser geeignet, Begeisterung für Klang und Ausdrucksmöglichkeit der deutschen Sprache zu wecken, als diejenigen, die sich mit Haut und Haar der Literatur verschrieben haben: die Dichterinnen und Schriftsteller. Das Modell, das hier vorgestellt wird, basiert darauf, dass professionelle Autoren in Schulen gehen und mit Schülern und Schülerinnen arbeiten. 3. Seelengeld und Seelenlohn Um die Arbeit an der Sprache erfolgreich ins Werk setzen zu können, ist Flexibilität unabdingbar. Die Voraussetzung Nummer eins, ohne die der Kandidat sein Ziel verfehlt: Er muss Kinder und Jugendliche gern haben und Verständnis für ihren Entwicklungsstand mitbringen. Er muss sich auf den jeweiligen Horizont der Kinder und Jugendlichen, die vor ihm sitzen, einstellen können. Gelingt dies, wird er Mittel und Wege finden, die Kinder der Altersgruppe mit der er arbeitet, anzusprechen. Sicher ist: Er kann nur mit dem Potential arbeiten, welches er vorfindet. Dass die allgemeine Sprachkompetenz schon im Alter von zwölf Jahren als ungenügend zu bezeichnen ist, davon kann jede Lehrerin, jeder Lehrer ein Lied singen. Aufbegehren nützt hier nichts (Höchstens gegen die Bildungspolitik. Doch das steht auf einem anderen Blatt.) Der Schulschreiber, der ein Schreibmeister sein sollte, muss sich überlegen, wie er es anfängt. Er muss mit genau den Kindern arbeiten, die vor ihm sitzen. Das erfordert oft Geduld und eine gewisse Demut. Denn der Schulschreiber weiß, er kann nur einen winzigen Beitrag in einem großen Zusammenhang leisten. Frust ist eingebaut. – Doch es gibt auch Erfolgserlebnisse. Wenn der Schulschreiber kommt, hat jeder noch einmal die gleiche Chance. Und siehe da, in der geglückten Unterrichtsstunde beginnt sogar der Stotterer witzige Ideen beizutragen und das leseschwache Mädchen entpuppt sich als wunderbare Worterfinderin. Klassenlehrer, die im Unterricht hospitieren, berichten immer wieder über ihr Erstaunen, dass selbst schwierige Kinder sich mit überraschenden sprachlichen Hervorbringungen am freien Schreiben beteiligen. Solche Rückmeldungen stärken die Arbeitsfreude des Schulschreibers erheblich und versüßen ihm seine schwierige Aufgabe. 4. Gedanken zum Vorgehen Viele Wege führen nach Rom. Die Möglichkeiten und Verfahrensweisen, Sprachlust und Erzählfreude zu stimulieren, sind zahlreich und vielfältig. Wenn der Sprachlehrer von seiner Sache durchdrungen ist, wird er den richtigen Weg finden. Der Verfasser bekennt sich an dieser Stelle zum Purismus, der es ablehnt mit Zusatzmitteln wie Schminke, Ton, Tamburins oder schamanistischen Ritualen zu arbeiten. Ihm zählen nur das gesprochene und geschriebene Wort, sowie als Arbeitsmaterial Schreibwerkzeug und Papier. Tafel und Kreide nicht zu vergessen. Das weiße Blatt ist die Bühne, auf der sich das geheime Leben der Wörter entfaltet. In jedem mit Lust, Aufmerksamkeit und Hingabe verfassten Text, lassen sich Wortklänge, Bedeutungen, Satzmelodien und Querverweise entdecken, die beim Schreiben gar nicht geplant waren. Sie sind der Mehrwert, den die Sprache dem ernsthaft spielenden Benutzer schenkt. Die folgenden methodologischen Grundlagen bilden ein offenes System, das in jeder Richtung erweiterbar ist. Der Natur einer jeden Schulung folgend schreiten wir vom einfachen Text zu komplexeren Textstrukturen voran. 5. Am Anfang steht das Wort Wir beginnen mit Lockerungsübungen, Buchstaben- und Wortspielen, die aus Figuren der klassischen Rhetorik erarbeitet sind. Es handelt sich hierbei um recht schnelle, kurzweilige Schreibvorgänge, die dazu dienen, erst einmal ein Gefühl für die buchstäbliche Materialität des Einzelwortes zu entwickeln, und daraus folgend ein Gespür für den Stoff, mit dem wir arbeiten werden. In diesem Zusammenhang lernen wir den schüchternen Dichter kennen, der, um die Last des Ruhmes nicht tragen zu müssen, ein Pseudonym aus den Buchstaben seines Geburtsnamens macht (Anagramm). Wir hören die Geschichte von Kevin, der in die kleine Susi mit den gegelten Haaren verknallt ist und ihren Vornamen in Großbuchstaben untereinander auf das Straßenpflaster schreibt, um ihr in Einzelworten seine Zuneigung zu signalisieren. (Akrostichon). Wir stellen die Frage: Was haben Daniel Düsentrieb und Marilyn Monroe gemeinsam? (Alliteration) Wir schreiben Geschichten ohne den Buchstaben r (Lipogramm) usw. Die klassische Rhetorik hält einen großen Vorrat an Stilfiguren bereit, aus denen sich Übungen und Aufgaben erarbeiten lassen. Derlei Buchstabenspiele und Wortschatzübungen können zur Auflockerung zwischendurch immer mal wieder in verwandelter Form in die Unterrichtsstunden mit eingebracht werden. 6. Befreiung der Phantasie In der zweiten Phase geht es um die Erarbeitung einfacher Texte vom Zweizeiler über kleine Prosa bis hin zu Quatschnachrichten. Ziel dieser Arbeitsphase ist neben der Erprobung von Strukturelementen kurzer Texte die Lockerung und Entfaltung der Phantasie und die Entwicklung des Vorstellungsvermögens. In diesem Bereich ist alles möglich; eine Aufgabe lässt die Teilnehmer z. B. zu Botanikern des Wunderbaren werden, die das Nachtleben der Wollmäuse erforschen. Wie wichtig derartige Phantasielockerungsübungen sind, zeigt sich dem Schreiblehrer spätestens dann, wenn er anstelle von individuellen Hervorbringungen mit stereotypen Bildern und Handlungselementen der Unterhaltungsindustrie konfrontiert wird. An diesem Punkt wird erkennbar, welche Wirkung es hat, wenn Kinder dem medialen Dauerfeuer ungeschützt ausgesetzt sind. Der Verfasser geht jedoch davon aus: Jedes gesunde Kind besitzt Phantasie, d. h. die Fähigkeit, sich die Welt phantasierend und träumend anzueignen. Wenn diese Phantasie keinen (Ruhe-) Raum findet, in dem sie keimen, wurzeln und wachsen kann, wird sie von den die Kinder überflutenden, scheinbar alles erklärenden, alles verdeckenden Bildern verschüttet. Was zu einer emotionalen Verarmung des Heranwachsenden führt. Für den Schreiblehrer bedeutet dies: geduldige Räumungsarbeit. 7. Erfinde einen Superhelden In der dritten Phase, die nur bei einem längerfristigen Projekt erreicht wird, lassen sich die Strukturen und Möglichkeiten des Theaters, des Hörspiels, des phantastischen Reiseberichts, der Genreliteraturen etc. in Gruppen und als Gemeinschaftsprojekt durchspielen und größere zusammenhängende Texteinheiten erstellen. (Siehe dazu die vorhergehenden Arbeitsberichte des Schulschreibers.) * Es versteht sich von selbst, dass die entstandenen Texte in der Klasse oder in der Gruppe vorgelesen und zur Diskussion gestellt werden. Wobei es nicht verkehrt ist, zuerst die Positivkritik und danach die Fragen und Verbesserungsvorschläge anzugehen. In der Arbeit mit der Altersgruppe der Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen und aufwärts lässt sich über das trojanische Pferd Massenphänomene der Jugendkultur in die entrückte Welt der Pubertierenden gelangen. Wobei der Faktor Lust (zur Arbeit) hier wie nirgendwo unter den Tisch fallen darf. In fast allen Altersgruppen stößt man auf erhöhte Aufmerksamkeit, wenn angekündigt wird, die Strukturen von Erzeugnissen kultureller Massenproduktion zu erforschen (Manga, Comic, Krimi, Gruselgeschichte, Rap, Horrorfilm, Popsong, Klospruch oder Graffiti). Der schöpferischen Phantasie des Schreiblehrers sind in der Erfindung neuer Aufgaben keine Grenzen gesetzt. 8. Utopie einer sprachmächtigen Gesellschaft Wenn wir die Schriftsprache, das geschriebene Wort, als Medium zur Bewahrung und zum Erhalt von Erfahrung und Erinnerung nicht aufgeben wollen zugunsten eines blind wuchernden Maschinengedächtnisses, das den einzelnen von der Verantwortung für seine Geschichte entbindet, müssen wir Mittel und Wege finden, das Schreiben so zu lehren, dass es bei den Kindern ankommt. Und es geht nicht allein um das Schreiben, sondern es geht um den Wert der Sprache an sich. Die Sprache ist die Fakultät, die alle Fachbereiche umfasst, die in allen wissenschaftlichen, öffentlichen oder privaten menschlichen Situationen eine wichtige Rolle spielt. Es ist die verbale Sprache, die das Säugetier Mensch von den anderen Lebewesen auf diesem Planeten unterscheidet. Nur über die Sprache ist es den Menschen möglich, mit ihrer Umgebung, mit der Vergangenheit, mit dem Universum Kontakt aufzunehmen. Immer wieder, etwa wenn der Schulschreiber einen Schüler anhört, der seine noch tintennasse Schrift schon nicht mehr lesen kann und damit Zeugnis für grassierende Konzentrationsschwäche und Gedankenflüchtigkeit ablegt, steigt vor seinem inneren Auge die Vision einer anderen Schule auf: 9. Gespielter Sprachunterricht Drei Wochen Sprachunterricht in jeder Klasse vom ersten bis zum dreizehnten Schuljahr, das wäre schon etwas. In jedem Schuljahr nur drei Wochen, in denen ausschließlich die Belange der Sprache verhandelt werden, in denen Spracherwerb, Sprachspiel, Sprachnutzen thematisiert und aktualisiert werden, in denen Zuwandererkinder aus anderen Kulturkreisen über ihre Sprache sprechen und lernen können, stolz darauf zu sein, in denen die elementaren Formen sprachlichen Umgangs miteinander geprobt werden und das Verhältnis von Muttersprache und Fremdsprachen mit den Schülerinnen und Schülern zu erforschen wäre. Sprachunterricht und Sprecherziehung sollten in den jährlichen Sprachphasen des Unterrichts Hand in Hand arbeiten: viele Kinder können nicht richtig schreiben, weil sie nicht richtig hören. Das Wort will auch als Klangkörper erfahren sein, damit es in seiner buchstäblichen Physiognomie erfasst werden kann. Natürlich würde ein solcher Sprachunterricht nicht die Defizite der elterlichen Erziehung ausgleichen, aber er könnte zumindest das soziale Verhalten der Schüler untereinander in der Schule und im Alltag verbessern helfen. Nachwort Die Tradierung kultureller Werte steht in geringem Ansehen. Etwas zu können, ist kein Wert mehr an sich. Fähigkeiten und Kompetenzen, mit denen sich kein Geld verdienen lässt, sind in den Augen der meisten überflüssig. Kultur beginnt mit den Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, die Grundrechenarten nicht zu vergessen. Werden diese nicht eingeübt sowie die schöpferischen Fähigkeiten des Kindes nicht angeregt und gefördert, kommt es zu einer sprachlichen und damit geistigen Verwahrlosung, die zu emotionaler Verrohung führt. – Vor kurzem ging eine kleine (!) Meldung durch die Presse: fünfzehnjährige polnische Schüler haben einen Lehrer gedemütigt, gequält und halb totgeschlagen und dabei eine Kamera mitlaufen lassen. Kopien des Videos waren später auch unter Schülern anderer Schulen begehrte Ware. – Ist es noch zu verhindern, dass eine neue Zweiklassengesellschaft eine verarmte, ungebildete, rohe Menschenhorde in die Zukunft schickt? R. Thenior, Dortmund, 15.10.2003 * Verpiss dich, Schimmelgesicht! Die Aufgaben des Schulschreibers. In: „Wenn man das Weltall erforschen will, kann man leicht verloren gehen“, Literaturbüro NRW-Ruhrgebiet e. V., Gladbeck 2001.
Das Erschrecken in der Wüste. Aus dem Arbeitsbuch eines Schulschreibers. In: „Der Mensch: OH NEIN Mein Kopf ist ab!“, Literaturbüro NRW-Ruhrgebiet e. V., Gladbeck 2003. |
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